Hochsensibel?!

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Hochsensibel?!

Ich gebe zu, dass ich kein Freund von Schlagwörtern und Modebegriffen bin. Nicht alles muss meiner Ansicht nach ein Label bekommen und nicht alles muss in eine Schublade gepackt werden. Aber manchmal helfen Schlagwörter, um sich selbst zu erkennen und sich mit etwas zu befassen, das man vorher nicht einmal richtig wahrgenommen hat.

Auf viele meiner Artikel bekomme ich z.B. Mails von Menschen, die für sich erkannt haben „hochsensibel“ zu sein. In meinen Texten finden sie einiges von sich selbst wieder, z.B. die Fähigkeit Gefühle und Bedürfnisse anderer wahrnehmen zu können, die Gefahr sich dabei zu verlieren, die Fähigkeit mehr zu sehen, zu hören oder zu spüren als manch anderer usw. Ich selbst habe mich bisher in keinem meiner Texte als hochsensibel bezeichnet, denn, wie gesagt, ich habe gewisse Vorbehalte gegen solche Etikettierungen. Aber da so manch einer über den Begriff hierher finden und in meinem Blog vielleicht auf Hilfreiches stoßen wird, wollte ich nun doch einmal etwas zu dem Thema schreiben. 

Wissenschaftlich anerkannt ist das Phänomen der Hochsensibilität bis jetzt noch nicht, es gibt aber eine eigene Forschungsrichtung, nämlich die so genannte High-Sensivity-Forschung. Die Amerikanerin Elaine N. Aron widmete sich als erste Forscherin mit Veröffentlichungen dem Phänomen, wenngleich eine erhöhte Sensivität auch schon von anderen Psychologen beschrieben wurde.

Worum es bei all dem geht? Darum, dass offenbar manche Menschen empfindsamer auf äußere Reize reagieren als andere, also mehr und intensiver wahrnehmen. Das kann einzelne Sinne oder auch die allgemeine Wahrnehmung betreffen. Manch einer reagiert z.B. besonders empfindlich auf akustische Reize und kann Geräusche wie mit einem Verstärker im eigenen Kopf erleben. Bei anderen ist der Sehsinn besonders ausgeprägt, so dass sie eine Fülle von Details wahrnehmen können, die andere erst sehen, wenn man sie darauf aufmerksam macht. Und wieder andere nehmen einfach alle Reize intensiver wahr und darüber hinaus sogar Stimmungen, Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen. Diese gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit geschieht automatisch und ist meist zunächst unbewusst. Deshalb ist es für Hochsensible oft eine Erleichterung über das Phänomen zu lesen und zu erfahren, dass sie nicht allein „so seltsam“ sind. 

Eine höhere Sensibilität hat eine ganze Reihe von Auswirkungen: Hochsensible empfinden oft mehr und tiefer, sind dadurch aber auch leichter beeinflussbar oder schnell überfordert. Eine Reizüberflutung tritt bei Hochsensiblen viel schneller ein als bei normal sensiblen Menschen, sie werden schneller müde oder reagieren gereizt, vor allem dann, wenn sie unter vielen Menschen sind. Für hochsensible Menschen ist es oft schwer zu unterscheiden, ob ihre Empfindungen wirklich ihre eigenen oder die von den Menschen sind, mit denen sie gerade zusammen sind, da sie deren Befindlichkeiten oft auch selbst spüren können. Dafür haben sie die Fähigkeit sich sehr emphatisch in andere einfühlen zu können und auf diese Weise Dinge benennen zu können, die anderen nicht bewusst sind. 

Hochsensibilität ist keine Störung, sondern einfach eine gesteigerte Form der Wahrnehmung. Es ist eine Fähigkeit, die sich nicht abschalten lässt; man kann also nicht willentlich weniger sensibel werden, man kann nur lernen, die Wahrnehmungen besser einzuordnen und besser für sich zu sorgen. Und  hier kommt die Achtsamkeit ins Spiel. Denn um eine Hochsensibilität an sich überhaupt erst einmal wahrzunehmen, gilt es achtsam für sich selbst zu sein. Reagiert man z.B. auf Geräusche schnell genervt oder fühlt man sich in belebten Situationen überfordert, neigen viele dazu, sich selbst dafür zu schelten und fordern von sich, sich zusammenzureißen. Viel sinnvoller ist es, sich über das eigene Erleben bewusster zu werden und offen und neugierig zu sein: „Oh, interessant, ich scheine die Musik viel lauter wahrzunehmen als andere.“ oder „Mir fällt auf, dass ich nach einem Gruppentreffen immer sehr müde bin, mich strengt das offenbar mehr an als andere.“ oder „Ist das, was ich gerade fühle, wirklich meins?“

Um besser für sich selbst sorgen zukönnen, ist es für Hochsensible besonders wichtig, ein Gefühl für Grenzen zu bekommen. Einmal die Grenzen dessen auszuloten, was für einen selbst zumutbar und erträglich ist, um sich entweder bestimmten Situationen nicht mehr auszusetzen (also z.B. viel Lärm, übermäßigen Reizen, grausamen Filmen usw) oder um nach einer Belastung für Ruhe und Ausgleich zu sorgen, um wieder auftanken zu können. Zum anderen geht es aber auch darum, ein Gefühl für sich selbst zu bekommen. Die eigene Wahrnehmung vermischt sich oft stark mit Wahrnehmungen der Gefühle anderer, was sehr verwirrend sein kann, vor allem, wenn man keine Ahnung hat, dass man gerade die Gefühle von anderen Personen wahrnimmt.  Hochsensiblen fällt es oft schwer, die eigenen Bedürfnisse zu benennen, da sie in Kontakt mit Bedürfnissen all der Menschen um sie herum sind, die sie dann auch oft noch zu erfüllen versuchen. So verlieren sich Hochsensible schnell selbst – oder ziehen sich vorn vornherein eher zurück. Eine große Lernaufgabe besteht also darin, bei sich selbst zu bleiben, und das nicht nur, wenn sie allen für sich sind. 

Ich lerne meine Art der Wahrnehmung immer mehr als Geschenk zu sehen. Dass ich so viel und so vieles so intensiv wahrnehme, macht mich ganz wesentlich aus. Hochsensibel zu sein bedeutet eine Herausforderung, aber ich möchte es nicht missen; im Gegenteil: ich möchte mich mit meiner Art der Wahrnehmung immer besser verstehen und auch fördern, denn sie macht meine Leben sehr bunt, sehr lebendig und sehr reich. 

7 Kommentare

  1. Sehr treffend beschrieben. Wenn ich eine solche Reizüberflutung verspüre, merke ich, dass es Zeit ist, mich zu erden (wie ich es gerne ausdrücke).
    Wenn nur die negativen Eindrücke und Gefühle vermehrt aufgenommen werden könnten, wäre es sicher eine Belastung und gerade dann ist Erdung, Achtsamkeit, Runterfahren angesagt.
    Es gibt zum Glück auch die positiven Eindrücke (durchaus subjektiv zu sehen), dann sind es nicht Krach, Gestank, zu viele Menschen… sondern Töne und Melodien (gerade in der Natur), die ich vor anderen wahrnehmen kann, Gerüche, die auch Gefühle hervorrufen, Leben und super Farbkombinationen und Motive (für meinen Kopf und meine Kamera).
    Dann wieder erden, verarbeiten und Kraft tanken und immer auf mich achten und den Kontakt halten.

    Beste Grüße,
    Kerstin

  2. Auch für diesen Text einen herzlichen Dank!
    Ich habe mich immer gescholten, dass ich damit was Besonderes sein möchte, mir einbilde, anders zu sein als andere, mir nicht zugestehe, „mehr“ zu empfinden als der Durchschnitt. Aus meinem Umfeld kommen leider oft Störmeldungen, weil ich so empfindlich bin, die ich verstehe als Forderung, an mir zu arbeiten, dass ich anders, abgestumpfter sein soll. Darin liegt ein „ich bin nicht in Ordnung, so wie ich bin.“ und auch ein „ich bin unangenehm, anstrengend für andere, wenn ich mich zeige, wie ich bin.“ Für mich ist es also zunächst mal der Schritt, mir zu erlauben, so sensibel zu sein (und daran zu arbeiten, die Außenreize bewußt aufzunehmen und einzuordnen und meine eigenen Begrenzungen wahrzunehmen (wann ist es genug?), in die Selbstfürsorge zu gehen und mich dem zu entziehen. Letzteres ist mit der Angst verbunden, nicht mehr Teil der Gemeinschaft zu sein und alleine zu bleiben…
    Dass es anderen ähnlich geht, ist eine Erfahrung von großer Tragweite – und der Erlaubnis, so sein zu dürfen, mich so zeigen zu dürfen.

    • dieses “ sei nicht so empfindlich“ und „ändere dich “ höre ich seit dem Kindergarten . Dass Einordnen von Außenreizen muss ich noch üben..

  3. Ich erkenne mich zu 100 % wieder. Starke Lärmbelastung macht mich sehr agressiv und Meinungen anderer…und deren Stimmung dabei kann ich nicht abschirmen. Müde bin ich ständig. Lasse alles zu nah an mich heran und immer wieder überschreiten Leute meinen Grenzen..was mich oft verzweifeln lässt. Schon immer war da das Gefühl “ anders“ zu sein…meine Lieblingsband scheint, wie ich in einer Fangruppe gelernt habe , diese meine Gefühle in der Musik auszudrücken…das hilft mir dabei, denn der Sänger und zugleich Songwriter ist dann sicher auch hochsensibel. Ein gutes Gefühl zu wissen, dass man nicht allein auf der Welt ist.

  4. Danke für diesen Artikel. Ich weiß seit langem, dass ich hochsensibel bin und das ist schön und schwer zugleich. Selbst in meinem nahen Umfeld stoße ich auf Widerstand und Unverständnis, aber ich laufe nicht mehr weg, ich bleibe auch immer öfter „stehen“ und das ist gut.
    Erwähnen möchte ich noch, dass in einer Klinik im Sauerland, in der sich mein erwachsener Sohn gerade für längere Zeit befindet, die „Diagnose“ Hochsensibel gestellt wurde. Dort weiß man um diese Empfindlichkeit und ihre Auswirkung und es ist kein Etikett.
    Das war für mich und für ihn sehr erleichternd. Wir müssen uns nicht ändern oder anpassen, nur gut für uns Sorgen

    • Danke für diese Zeilen. Darf ich fragen wie diese Klinik heißt?

  5. Das merkwürdige bei diesem Empfinden ist die Intensität des Erlebten. Ich fange gerade erst an damit umgehen zu lernen. Meine Grenzen auszuloten ist sehr schwierig, weil man selbst geringste Anzeichen von bewusst gesteuerter Manipulation wahrnimmt, wird man misstrauisch. Das einzige Gefühl was mich dauerhaft Achtsam macht, ist Liebe ich nehme sie sehr stark wahr. Wenn ich verliebt bin gleicht es einem Weltuntergang, weil ich nichts mehr auf die Reihe bekomme. Sind Menschen hinterhältig nett, nehme ich es schlechter wahr, ich lasse mich schnell ausnutzen. Leider erkenne ich hinter vermeintlich bösartigen Absichten immer die Gefühle. Will ein anderer mich für ein Geschäft übers Ohr hauen, merke ich die Intention schnell. Ich sehe einen Mann der sich ernähren muss, seine Liebsten versorgen muss und gebe dann nach. Ich fühle mich selbst auch ständig gut dabei, allerdings bekomme ich als liebenswerter Idiot natürlich nichts zurück. Egoismus ist bei mir mir oft mit Angst verbunden abgelehnt zu werden. Ich neige zu Perfektionismus und tue mir selbst selten etwas gutes. Ich habe sogar mein Mädchen verloren, die mich über alles geliebt hat, weil ich sensibel war, weil ich nicht Achtsam mit ihren Bedürfnissen gewesen bin und ich war sogar noch wütend und egoistisch. Die Grenzen kann ich mittlerweile immer besser erkennen. Ich bin sehr kommunikativ fühle mich außerhalb wenn ich länger unterwegs bin wie in Trance, werde oft Orientierungslos und träumerisch ohne Faden. Damit umzugehen ist leider nicht einfach, erworbene Kenntnisse verpuffen und werden fragwürdig. Ich bin so vielseitig interessiert, dass ich schwer Fuß fassen kann, aufgrund dieses Empfindens. Ich bin dann schnell verunsichert. Nach einer zerbrochenen Beziehung geht es mir so schlecht, dass ich Ewigkeiten brauche mein Selbstwert wieder zusammenzuflicken. Und ich habe sowieso Schwierigkeiten bei Frauen nichts zu überstürzen, alles ziemlich belastend aber ich muss wohl lernen so zu leben.

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