Neulich las ich etwas über Gefühle. Da schrieb jemand, dass man nicht seine Gefühle ist, sondern dass man sie nur habe, und denkt, das ist schlau, denn das soll dabei helfen, sich nicht zu sehr mit Gefühlen zu identifizieren, um auf diese Weise besser mit ihnen umgehen zu können.
Sprich: Man ist nicht seine Traurigkeit, man hat sie nur (so wie eine Krankheit oder einen Virus?) oder man ist nicht sein Schmerz, auch den hat man eben nur (wie einen hässlichen Fleck auf der Jacke?). Dann ist man auch nicht sein Glück, sondern hat es nur? Ist nicht seine Liebe, sondern hat auch die nur?
Mich hat das (mal wieder, denn ich kenne den Ansatz schon länger) wütend gemacht (ja, genau auch so ein Gefühl…). Die Idee, unsere Gefühle „in den Griff“ zu bekommen, gehört nämlich zu dem großen Komplex von Ratschlägen, die davon ausgehen, dass wir das Leben kontrollieren können, indem wir uns selbst kontrollieren, respektive unsere Gefühle.
Wissen Sie was? Been there, done that… – oder anderes gesagt: Auch ich habe das mal geglaubt. Ich habe das, was ich nicht fühlen wollte, weggeschlossen und durch Gefühle ersetzt, die akzeptabler waren, mit denen ich besser ankam und besser passte. Ja, und es hat tatsächlich funktioniert, jedenfalls über weite Strecken konnte ich damit ein Stück weit mein Leben kontrollieren oder besser gesagt: ich konnte es beugen.
Aber ist das auch gut? Denn wer spricht über den Preis, den wir dafür zahlen, unsere Gefühle wie schlechte Angewohnheiten „weghaben“ zu wollen? Wer erwähnt die Kleinigkeit, dass wir uns damit Stück für Stück selbst verneinen, ablehnen und auch verlieren?
Denn: Natürlich bin ich, was ich fühle! Was könnte ich sonst sein? Was?
Ich für mich weiß heute, dass mich meine Gefühle ausmachen, mich als Persönlichkeit und mich in meinem Sein. Die Art, wie ich empfinde, ist einzigartig, genauso wie IHRE Art zu empfinden einzigartig ist. Und gleichzeitig verbinden uns unsere Gefühle, denn jeder von uns kennt Schmerz, kennt Trauer, kennt Glück und kennt Freude.
Gefühle sind und machen uns menschlich. Ja, auch verletzlich und vielleicht können wir, wenn wir unsere Gefühle zulassen, keine ganz so glatte Fassade mehr bieten, um andere zu beeindrucken. Aber warum und vor allem wofür wollen wir daran glauben, alles im Griff haben zu können? Um keine Angst mehr haben zu müssen? Das ist eine Illusion, denn natürlich wissen wir alle, dass jederzeit etwas kommen kann, das alles ändert, dass uns in die Knie zwingt und zum, ja genau, zum Fühlen bringt.
Ich weiß jedenfalls inzwischen, dass es für mich im Leben mehr als alles andere ums Fühlen geht und zwar um die ganze Bandbreite meiner Gefühle. Sie sind es, die das Leben bunt macht und lebendig und intensiv.
Fühlen heißt leben für mich. Und für Sie?
Liebe Tanja
Ich habe mich eine Zeit lang mit einem philosophischen Ansatz beschäftigt, der unter anderem sagt: „Alles, was du wahrnehmen kannst, kannst du nicht sein“. Weil es dann ein Objekt (ein „Ich“) gibt, das etwas Subjektives (Gedanken, Gefühle, Körpersensationen) wahrnimmt. In diesem Sinne bin ich beispielsweise nicht Trauer, sondern ich fühle Trauer.
Das kann zu einer Negierung oder Abspaltung führen, insbesondere von unangenehmen Gefühlen. Nach dem Motto: Da ich das alles nicht bin, nehme ich es nicht wahr oder will es nicht wahrnehmen. Da ich das alles nicht bin, gehört das auch gar nicht zu mir.
Das kann aber auch dazu führen, dass man in die Fülle des Lebens eintaucht, indem man all dies willkommen heisst: Gedanken, Gefühle, Körpersensationen – in dem Wissen und in der Erfahrung, dass alles im Fluss ist, dass alles, was wahrhaftig gefühlt wird, auch wieder geht (Glück wie Leid). Und dass das Leben eben dies ist: Ein Fluss von Erfahrungen, die erlebt werden wollen.
In der Gewaltfreien Kommunikation werden Gefühle als ein Indikator für Bedürfnisse gesehen. Wenn ich traurig bin, dann kann dies ein Zeichen sein, dass beispielsweise mein Bedürfnis nach Kontakt von mir unerfüllt ist.
Es geht dann darum, mit diesem unerfüllten Bedürfnis in Kontakt zu kommen. Nicht um es dann zwanghaft zu erfüllen und damit dann wieder zu kontrollieren. Es geht darum, „the beauty of needs“ zu fühlen. Wenn ich in ein Bedürfnis eintauche, mit ihm in Kontakt komme, dann erfüllt es sich erstaunlicherweise oft von selbst, auch wenn dies mit dem Fühlen von Schmerz verbunden sein kann.
In diesem Sinne bin ich auch der Ansicht, dass ich nicht meine Trauer bin, sondern sie wahrnehme. Wie ein Gasthaus, das einen Gast beherbergt. Und dieses Beherbergen kann sich auf allen Ebenen ausdrücken: Gedanken – Gefühle – Körpersensationen (Herzklopfen, Hitze, Starre, Enge, Kribbeln, …).
Es geht darum, jeden Gast zu empfangen, aufmerksam, auch wenn dies manchmal schwerer und dann wieder (bei anderen Gästen) leichter fällt. Und jeden Gast wieder ziehen zu lassen. Dann hängen irgendwann die Fotos im Gastraum, von all den Gästen, die einmal da waren und die Geschichten, die es dazu zu erzählen gibt und so erhält das Gasthaus seine unverwechselbare „Identität“, auch wenn sich das nun widersprüchlich anhört.
Schwierig wird es, wenn man nur bestimmte Gäste aufnehmen will und die anderen vor der Tür stehen lässt. Solche Gäste werden unangenehm, finden den Hintereingang, campen vor dem Gasthaus oder holen sich Verstärkung, um doch noch Einlass zu finden.
Ich könnte nun noch lange an dieser Analogie herum schreiben. Sie gefällt mir.
Einen schönen Sonntag wünscht Ihnen
Barbara
Liebe Barbara,
herzlichen Dank für Ihre Gedanken. Dieses Thema bewegt mich und ich denke, ich werde noch einiges darüber schreiben.
Die große Frage, die bei diesem Ansatz für mich offen bleibt ist die: Was bin ich, wenn nicht meine Gefühle bin? Die Gasthausmetapher fühlt sich für mich an, als wäre ich nur ein Gefäß, nicht aber ein Wesen…
Lebendigkeit macht für mich tatsächlich genau das Fühlen aus.
Na, das bewege ich weiter in mir.
Alles Gute,
Tania
Liebe Tanja,
kann es auch sein, dass du ein Wesen bist das fühlt? Ein Wesen mit „Gefäß“, welches sich nicht in der Unendlichkeit verlieren will….sondern erfahren will.
Ein spontaner Impuls…
Liebe Grüße
Liebe Tania,
vielen Dank auch für diesen Text! Du machst mir wirklich Mut damit, meinen Gefühlsweg weiterzugehen…
Ein Gefühl haben und wahrnehmen oder ein Gefühl sein… Der Unterschied liegt auch für mich in der Kontrolle und der Intensität. Das Anschauen und Wahrnehmen hat was Vorsichtiges, Abtastendes, Analysierendes. Ja, das mache ich auch, vor allem wenn ich noch gar nicht so genau weiß, welches Gefühl da kommt. Ist es wirklich Wut? Oder ist unter der lauten Wut eine leise Traurigkeit? Und was für ein Gefühl ist dieses innere Lächeln, das auf einmal angeflogen kommt?
Aber wenn ich meine Gefühle bin, wenn ich sie mich „überkommen“ lasse, dann durchströmen sie mich ganz. All die Gedanken, woher das Gefühl kommt, wie es sich anfühlt, warum es da ist und ob und wann es wieder geht, sind erst mal weg. Und das ist auch gut, denn meine Gedanken sind mir beim Fühlen einfach oft im Weg, ich will das Gefühl „pur“… Es fordert Mut, mich in ein Gefühl loszulassen, weil es weh tun kann und eben weil ich loslassen muss. Aber näher bei mir selbst als in so einer Gefühlswelle kann ich gar nicht sein. Anstrengend, aber lebendig, echt. Und wenn die Welle dann wieder abklingt, dann weiß ich wieder, wo ich bin, spüre noch nach. Ich fühle mich wieder frei, gelöst und eben bei mir.
Aber ich bin noch auf dem Weg… Das Loslassen gelingt mir nicht immer, erst selten vor anderen Menschen und nie bei Angst. Da fordert es irgendwie schon genug Mut, sie überhaupt anzusehen. Aber ich erlaube mir mittlerweile alle Gefühle, und das ist wohl der erste Schritt… Und auch hier – mir Gefühle zu erlauben ist mir erlauben zu SEIN…
Deine Worte über deine Gefühle, über die „Berechtigung“, diese Gefühle ganz und gar zu sein, über die Lebendigkeit, die du dadurch gewinnst, klingen kraftvoll und ermutigend. Danke dafür!
Noch einen schönen Sonntag und liebe Grüße
Karin
Liebe Karin,
ja, genau das ist es, was Du schreibst:
„Aber näher bei mir selbst als in so einer Gefühlswelle kann ich gar nicht sein.“
Danke dafür!
Tania
Hallo zusammen,
danke für all die wunderbaren Gedanken zu diesem Thema!
Ein Thema, das mich sehr bewegt.
Nachdem ich jahrzehntelang meine Gefühle als etwas, das „nicht sein darf“ bewertet habe, nachdem sie mit Scham und Schuld so eng verknüpft waren, dass ich sie auf keinen Fall fühlen wollte – komme ich gerade so langsam aus der Verpuppung heraus.
Ja, es ist wie eine Verpuppung, ein starres festes Korsett, gewesen, in dem ich mich befunden habe. Alles, was lebendig in mir hochkommen wollte, wurde in abgeriegelte Räume gesperrt, abespalten von mir.
Und doch waren da „Gefühle“ – aber es waren nicht meine echten lebendigen Gefühle, sondern es waren die Gefühle, die aufgrund dieses Einsperren entstanden sind: Angst. Vor allem Angst. Angst kommt vom Wort „Enge“, der Zusammenhang zum Korsett ist vollkommen einleuchtend.
Und da waren diese „Mangelgefühle“, Neid, Eifersucht, Scham, Schuldgefühle….dieses abgrundtiefe innere Mangelgefühl.
Heute sehe ich diese als „sekundäre“ Gefühle, die Gefühle, die aus dem Eingesperrtsein und der Abspaltung meiner wahren Gefühle entstanden sind.
Und auch die Mangelgefühle wollte ich nicht fühlen. Keinesfalls! Sie fühlen sich unerträglich an. Belastend. Niederdrückend. Ich versuchte, sie „wegzumachen“ mit Suchtmitteln aller Art.
Dabei geht der Weg zu meinen wahren Gefühlen über die sekundären Gefühle. Wenn ich nicht mal die wahrnehme – wie soll ich jemals in die Räume „dahinter“ kommen?
Wahre Gefühle sind für mich mittlerweile die Gefühle, die wirklich aus mir entstehen – nicht aus diesem seit der frühen Kindheit „gelernten“ Mangel. Und da gibt es keine Aufteilung in positiv und negativ.
Trauer und Wut – ganz wichtig!! Sie sind nicht „negativ“, ganz im Gegenteil. Nur wenn sie nicht sein dürfen, entsteht diese sich so negativ anfühlende Depressivität.
Liebe und Freude und Lust. Auch das habe ich mir ja alles nicht erlaubt. Freude wurde sofort erstickt durch Angst („bestimmt passiert gleich etwas Schreckliches!“. Lust? „Oh Gott, eine Sünde!“
Liebe – ich glaubte zu lieben, aber es war eine egoistische Liebe. Sich verströmende Liebe – kannte ich nicht.
Alle Vorzeichen drehen sich zur Zeit um. Ganz allmählich, mit vielen Rückfällen.
Nun zu der Frage: bin ich meine Gefühle oder habe ich sie?
Beides! Ja, ich glaube, es ist beides! Gibt es einen Fluss ohne sein Flussbett?
Herzlichst
Ulrike
Einfach danke, Ute, für Deine Zeilen.
Ganz herzlich,
Tania