Eine Geschichte über Wertschätzung

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Eine Geschichte über Wertschätzung

Vielleicht kennen einige von Ihnen die folgende Geschichte schon, für mich war sie neu: An einem kalten Morgen im Januar 2007 steht ein Straßenmusiker in einem zugigen U-Bahnhof in Washington. Er spielt auf einer Violine sechs Stücke mit einer Gesamtdauer von rund 45 min. Es gehen über 1000 Menschen, an dem Musiker vorbei. Nicht einmal zehn von ihnen bleiben für einen Moment stehen, um zuzuhören. Rund 20 geben etwas, aber ohne ihr Lauftempo zu mindern. Am Ende befinden sich knapp über 32,– $ in dem Hut des Violinisten.

Der Mann, der dort spielte, war Joshua Bell, einer der größten Musiker unserer Zeit. Die Violine, auf der er spielte, war eine 3,5 Miollionen-Dollar-Stradivari. Die ausgesprochen schwer zu spielenden Melodien waren von den berühmtesten Komponisten geschrieben. Zwei Tage zuvor hatte er ein ausverkauftes Konzert mit denselben Stücken gegeben, der Durchschnittspreis für eine Karte betrug 100,– $ …

Diese wahre Geschichte (nachzulesen z.B. in dem pulitzerpreisgekrönten Artikel in der Washington Post oder in diesem Artikel auf Deutsch) hat mich sehr berührt. Spontan fragte ich mich: Wie abgestumpft sind wir doch oft in unserem Alltag, dass wir uns nicht die Zeit nehmen, etwas Wundervolles auch nur wahrzunehmen? Wie oft erkennen wir gar nicht die Geschenke, die uns gereicht werden? Und stellt tatsächlich erst ein (hohes) Preisschild sicher, dass wir etwas überhaupt wertschätzen können?

Nach dem Lesen dieser Geschichte wurde mir wieder sehr bewusst, was Leben für mich ausmacht:

  • immer bereit zum Staunen zu sein,
  • mich begeistern zu können,
  • Magie zu erkennen,
  • Wunder zu entdecken,
  • Zeit zu haben für Unvorhergesehenes und
  • die Freiheit, inne zu halten, wenn etwas meine Aufmerksamkeit fesselt und nicht einfach weiterzurennen in meinem Stress … 

Vieles davon sind natürliche Teile meines Seins, aber manches verliere ich, wenn ich zu sehr in den Anforderungen meines Alltags eingebunden bin. Wenn ich mich selbst trieze, weil ich funktionieren muss, und wenn ich mit Scheuklappen durch die Gegend hetze, weil ich glaube, nur so alles schaffen zu können. Und vor allem immer dann, wenn ich den Kontakt zu mir selbst verliere. 

Bei dem oben beschriebenen Experiment waren es vor allem die Kinder, die eigentlich stehen bleiben und dem Mann zuhören wollten. Doch sie wurden weitergezogen, keine Zeit, keine Zeit. Auch in mir sind es vor allem die kindlichen Teile, die sich verzaubern lassen von dem schillernden Käfer oder dem kleinen vergolden Türknauf oder dem liebevoll eingerichteten Café oder von der Jonglierkunst des Straßenakrobaten. Und ich weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn mein Antreiber-Ich das Kind und all die anderen Teile in mir, die sich die Zeit nehmen für die Vielfalt unserer bunten, schönen Welt, weiterzerrt oder voranschubst … Genau so möchte ich nicht leben.

Achtsam zu sein, heißt wertschätzen zu können, was uns das Leben bietet – jeden Tag neu.

8 Kommentare

  1. Guten Morgen liebe Tania,

    ich lese schon lange deine einfühlsamen, sehr differenziert beobachteten Zeilen – hab herzlichen Dank dafür! Ich erlebe dich via dieses Blogs als sehr feinsinnigen, klugen und „bunten“ Menschen:-).
    Bei diesem Text und der Geschichte fühlte ich mich spontan besonders berührt: Meine Schwester, freiberufliche Geigerin, hat vor einiger Zeit die Orchesterbühnen verlassen und ihre Musik auf die Straße gebracht – mit sehr unterschiedlichen Reaktionen.
    Auch ich möchte weiter staunen, genauer hinschauen, mich und mein Gegenüber beobachten, innehalten, möglichst nicht durch’s Leben rasen.
    Seit einiger Zeit schreibe ich kurze Texte über Lebenskunst, Selbstfürsorge und gelingende Kommunikation und schicke diese an Menschen in meinem Umfeld. Ich ziehe den Hut vor deinem schönen Blog und möchte demnächst auch selbst mit einem Blog „auf die Straße“ bzw. ins Netz.
    Ich grüße dich von Herzen & wünsche dir einen November in deinem Sinne,

    Carolin

    • Liebe Carolin,

      herzlichen Dank für Deine Zeilen.

      Alles Gute für Dich,
      Tania

  2. Hat michnauch sehr überrascht …. Weil ich andererseits schon viele videoclips gesehen haben von unbekannten Strassenmusikern, die ihr Publikum begeistert haben.

    • Ja, ich denke, es gibt beides, eben auch das sich-mitreißen-lassen-können von der Begeisterung anderer. Aber vielleicht braucht es dafür vielleicht immer erst einige Menschen, die offen genug sind, etwas Wundervolles wahrzunehmen?

      Ein lieber Gruß an Dich,
      Tania

  3. Liebe Tania,

    dem, was du schreibst und dem, was hier kommentiert wird , kann ich nur zustimmen, deshalb kurz und bündig :

    „du bist eine tolle Frau “ und ich bin sehr froh darüber, dich im www gefischt zu haben,

    liebe Grüße aus Krefeld, Erika

    • Hui, dankeschön, Erika 🙂

      Einen lieben Gruß für Dich,
      Tania

  4. Hallo Tania,
    wie Recht du doch hast… Und wie schade es ist, dass die meisten Menschen an diesen zahllosen Schönheiten des Lebens einfach vorbei rennen.
    Oftmals auf dem Weg zur Arbeit bleibe ich einen Moment stehen, um diese wundervollen Momente, die Natur, die kleinen Kompositionen aus tausenden von Mitwirkenden wie Tiere, Blätter, Wind und Wasser, Formen und Farben sowie Musizierende und andere Protagonisten einfach kurz auf mich wirken zu lassen, und ganz objektiv aufzunehmen, quasi in mich einzuatmen.
    Ich bin gerade auf deinen Blog gestoßen, auf der Suche nach dem Thema Achtsamkeit. Es ist schön, von dir zu lesen und ich werde bestimmt des öfteren zum Weiterlesen wiederkommen 🙂

    Viele Grüße,
    Eerika

    • Herzlich willkommen hier, Eerika, schön, dass Du hergefunden hast!

      Ein lieber Gruß von Tania

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