Was hinter uns liegt

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Was hinter uns liegt

Neulich las ich einen Spruch, in dem es sinngemäß darum ging, niemals zurückzuschauen, außer um festzustellen, wie weit man gekommen ist. Mich hat dieser Spruch erst sprachlos gemacht, dann etwas wütend und letztlich vor allem traurig. 

Ich weiß, dass es viel dynamischer klingt, sich mit der Zukunft zu befassen und ich weiß auch, dass immer wieder zu hören ist, dass sich das wahre Glück nur im Hier und Jetzt finden lässt. Die Vergangenheit scheint deshalb für viele eine Art „Abfall“ zu sein, etwas, das es einfach nur loszulassen gilt, damit man weiter voranschreiten kann. 

Tja, und da schwimme ich wohl etwas gegen den Strom, denn das sehe ich anders: Für mich ist meine Geschichte ein kostbarer Schatz, den ich hüte und immer wieder gerne betrachte.

Unsere Vergangenheit, das sind doch wir selbst, denn die Zeit, die hinter uns liegt, ist gelebtes Leben, ist unsere Lebenszeit. Es ist Zeit, die nicht wiederkommt, die aber unser Leben und uns Selbst auch im Jetzt ganz wesentlich ausmacht. Sich dessen bewusst zu werden, hat für mich sehr viel mit Achtsamkeit zu tun und mit Wertschätzung.

Zurückzuschauen ist wertvoll für mich, denn ich begegne dort immer wieder mir selbst in meinem unterschiedlichen Sein. Dabei führt allerdings sowohl die Abkehr von der Person, die wir mal waren („Ich bin heute ganz anders!“), als auch die Verklärung dessen, was hinter uns liegt („Ach, ich wäre so gerne wieder jung…“) dazu, dass wir uns von dem Menschen abspalten, der wir jetzt sind. Viel heilsamer ist es, unsere Vergangenheit als unser Wurzelgeflecht zu sehen, das uns heute den Stand gibt, den wir haben. Gesunde und kräftige Wurzeln geben uns Stabilität und nähren uns mit dem, was wir brauchen und wenn es kranke Wurzeln gibt, dann gilt es sie zu erkennen, zu pflegen und mit Aufmerksamkeit und Liebe zu stärken, damit sie heilen und neu wachsen können.

Mir hilft es sehr, in der Rückschau mit einem liebevollen Blick auf meine Entscheidungen, meine Wege und Irrwege zu schauen und zu verstehen, was in mir vorging – wer ich damals war oder zu sein versuchte, wovon ich träumte und wovor ich mich fürchtete. Denn all die vielen Tanias der Vergangenheit – das kleine Mädchen, die verwirrte Jugendliche, die suchende junge Erwachsene – all diese Teile sind noch immer in mir. Ich kann noch heute sehr intensiv spüren, was die 8jährige Tania bewegte oder was in der 15jährigen, die ich mal war, vorging und was die 26jährige unbedingt erreichen wollte. Sie alle leben weiter in mir und ich bin froh, sie alle noch in mir zu haben. 

Loslassen heißt für mich weder verdrängen, noch vergessen, noch verneinen. Ich kann Vergangenes nur dann auf eine gute und heilsame Art loslassen, indem ich es als Teil meines Seins annehme. Und dabei ist mir inzwischen vollkommen egal, wie „weit“ ich gekommen bin, denn ich bin immer genau da, wo ich bin. Aber um zu wissen, wo ich bin, muss ich mich spüren und das nicht nur in dem winzigen Jetzt-Ausschnitt meines Seins, sondern immer wieder auch in den vielen Facetten, die ich gelebt habe. Ich bin doch immer mehrdimensional, auch im Hier und Jetzt. 

6 Kommentare

  1. In dem Buch ‚Das Geheimnis der Villa della Luna‘ habe ich zwei interessante Sätze gelesen, die in etwa so lauten:
    1. Den Schlüssel zur Vergangenheit suchen, um die Gegenwart zu begreifen

    2. Die Vergangenheit noch einmal Aufzusuchen, um in die Zunkunft weiterziehen zu können

    Ich persönlich glaube, dass jeder oder fast jeder, der Probleme in der Gegenwart hat, gut daran tut nochmal zurück zu schauen, die Vergangenheit anschauen, reflektieren wer ich da war, Dinge aus einem anderen Blickwinkel beleuchten, lernen gnädig mit mir und anderen umzugehen, zu vergeben und dann nach vorne blicken und aufbrechen zu neuen Ufern.
    Allen viel Mut ( den braucht man !) und Kraft dazu…

  2. Danke für diesen wundervollen Bericht, in dem ich mich voll wiederfinde. Auch ich bin hochsensibel, auch ich habe mich
    bereits mit dem „inneren Kind“ und „Angst loslassen“ befasst.
    Da ich mich gerade intensiv mit meinem Lebenslauf beschäftigen MUSS, habe ich festgestellt, dass ich erst authentisch in die Zukunft gehen kann, wenn ich die Vergangenheit AKZEPTIERE und nicht einfach ignoriere unter dem Deckmantel des Hier und Jetzt.
    … und dabei fühle ich mich gut, auch wenn es stellenweise nicht einfach ist, meine damaligen Entscheidungen zu akzeptieren.

    Danke nochmal. Ich freue mich immer über den Newsletter und die Anregungen zum Nachdenken oder auch Bestätigen des eigenen Empfindens.

  3. Liebe Tania,

    deine Sichtweise der Vergangenheit trifft bei mir voll in die Mitte. Meist wird es als „ungesund“ angesehen, wenn wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen. Doch das gehört zu mir und alles steht in MEINEM großen Lebensbuch. Am Ende unseres Daseins darf ein volles Buch präsentiert werden. Wenn ich meine Vergangenheit weg schiebe, ist es, als wenn ich bei einem Buch alle Seiten vernichte und nur die letzte im Buch lasse. Wie langweilig !!

    Danke dir und
    Alles Liebe
    Rose-Maria

  4. Ganz herzlichen Dank für diese Kommentare. Ich freu mich wirklich sehr darüber, nicht ganz allein mit meinen Gedanken zu sein!

    Liebe Grüße an Euch,
    Tania

    • Liebe Tanja,
      auch ich bin deiner Meinung – was wären wir denn ohne unsere „Vergangenheit“? Da wären wir doch gar nicht geboren !!
      Eine Reise mit vielen Erlebnissen, Prägungen –
      ein Lebensbaum mit vielen Wurzeln und Ästen ..

      Vielen Dank für dein wertvolles Mit-Teilen

      Liebe Grüße
      Theresia

  5. Im Hier und Heute leben heißt doch nicht, die Vergangenheit zu vergessen.
    Schön war die Kindheit, spannend die erste Liebe …
    oder auch nicht. Aber die Vergangenheit auf den Seziertisch legen, lenkt vom Hier und heute ab. Manche Menschen benutzen ihre Vergangenheit oft auch als Entschuldigung für ein weniger glückliches leben. Warum sich so schwer tun?
    Ich lächel manchmal, wenn ich an meine Vergangenheit denke, auch wenn es nicht angenehm war.

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