Empfindsamkeit ist keine Schwäche

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Empfindsamkeit ist keine Schwäche

Menschen, die mir wichtig sind, offenbare ich meine Empfindsamkeit. Ich bin bereit, andere sehr tief in mich schauen zu lassen, weil das in meiner Welt Nähe ermöglicht und ich darin ein Geschenk sehe. Nun scheint aber Empfindsamkeit etwas zu sein, das für viele Menschen mit Schwäche gleichzusetzen ist – ein Rückschluss, auf den ich von mir aus nie gekommen wäre! 

Seit einiger Zeit bin ich dabei, meine Beziehungen und Erlebnisse mit anderen Menschen etwas genauer zu durchleuchten. Mir war lange Zeit nicht bewusst, wie stark mich andere Menschen beeinflussen, und um gesunde Grenzen setzen zu können, ist es für mich hilfreich, Muster und Mechanismen im Miteinander besser zu verstehen. Ein Punkt ist, dass ich inzwischen sehr klar spüre, dass mir manch einer nur wenig zutraut und vor allem mit Sorgen und Bedenken auf mich und mein Tun schaut – etwas das mir nicht gut tut. Ich habe mich gefragt, was ich wohl aussende, um das zu ernten, und ich glaube, ich habe einen entscheidenden Punkt gefunden.

Empfindsamkeit ist für mich eine Fähigkeit und etwas sehr Schönes und Bereicherndes. Empfindsame Menschen fühlen sehr tief und sind in der Lage mit anderen Menschen mitzufühlen (ja, manchmal fühlen sie sogar mehr als die Person selbst es für sich zulassen kann…). Sie lassen sich von ganz vielem berühren und bewegen und sind dadurch auch sehr verletzlich. Ich habe all das an mir immer als gute Eigenschaften gesehen, auch wenn sie naturgemäß zu viel Schmerz führen.

Nun halten mich manche Menschen dadurch offenbar für schwach – etwas, das mir geradezu paradox erscheint, denn sie scheinen so viel mehr Angst vor Gefühlen zu haben und teilweise sehr viel schlechter mit Schmerz umgehen zu können als ich! Manchmal kommt es mir vor, als würden viele denken, dass sie sich bei Gefühlen anstecken können oder dass, wenn sie Gefühle zulassen, ihre Welt ins Wanken gerät. Was immer die Gründe und Ursachen dafür sind, das führt offenbar dazu, dass Gefühle als „übertrieben“ oder „unsachlich“ vom Tisch gewischt werden und eine fühlende Person tendenziell als schwach angesehen wird. 

Auch ich habe immer wieder versucht, weniger zu fühlen, um kompatibler mit all denen zu sein, denen Gefühle Unbehagen bereiten – immer zu einem viel zu hohen Preis. Ich verliere dann mich selbst und wenn ich mich zwinge, mich in einer Beziehung gefühlloser zu geben, entsteht zu viel Abstand. 

Heute weiß ich, dass meine starke Empfindsamkeit nicht nur zu mir gehört, sondern mich ganz wesentlich ausmacht. Mehr noch: ich bin durch sie immer mehr gewachsen. Ich habe nur noch wenig Angst vor Gefühlen, auch nicht vor starken und heftigen, sondern kann sie immer besser umarmen und sein lassen – und das bei mir und bei anderen Menschen, ob das nun Traurigkeit ist, Verzweiflung, Angst oder Schmerz. Wir teilen sie doch alle, diese Gefühle, denn sie gehören zum Leben dazu! Sie immer nur wegdrücken zu wollen, macht auf Dauer hart und krank, das ist zumindest meine Erfahrung. Ich will fühlen und zwar die ganze Bandbreite. 

Heute weiß ich: Meine Empfindsamkeit ermöglicht mir mein ganz persönliches Tun und Schaffen. Sie ist etwas ganz Kostbares. Meine Empfindsamkeit macht mich nicht schwach, sie macht mich stark. 

 

Empfindsamkeit ist keine Schwäche

22 Kommentare

  1. Yes!!!

  2. Liebe Tania,

    hab Dank für deine offenen, tiefen Worte! Schön, dass du deine dir innewohnende Empfindsamkeit als Gabe, als Stärke erlebst!
    Von dieser & deinem persönlichen (starken) Umgang mit deinem „Viel-/Mehr-Fühlen“ kann dein Umfeld sicherlich vieles lernen.

    Liebe Grüße sendet

    Carolin

  3. YES !!!!

  4. Herzlichen Dank Euch Dreien!

    Liebe Grüße,
    Tania

  5. So schön und klar auf den Punkt gebracht! Genau so empfinde ich es auch, wenn auch mit anderen Gefühlen, die noch mehr gefühlt werden möchten..

    Danke für diese Gedanken 🙂

    • Und danke Dir für Deine Zeilen.

      Herzlich,
      Tania

  6. Liebe Tania,
    was für ein wichtiger Beitrag. Ich finde mich sehr in deinen Worten wieder.
    „Ich will fühlen und zwar die ganze Bandbreite.“ Genau das ist es .. Fühlen bedeutet alles fühlen. Wir können nicht selektiv nur Freude fühlen und alles „negative“ weglassen. Wenn dann alles. Und wenn wir uns darauf einlassen, ist das so bereichernd .. so erlebe ich es jedenfalls. Fühlen macht so lebendig.
    Ich sehe Empfindsamkeit auch als Gabe, als Stärke. Vielleicht wird sie oft als Schwäche abgetan, weil viele Menschen Angst haben vor zu starken Gefühlen. Dann ist es einfacher sich einzureden, es sei schwach, so viel zu fühlen.
    Ganz liebe Grüße
    Silke

    • „Fühlen macht so lebendig“ – was für ein wundervoller Satz!

      Ja! Ja! Ja!

      Herzlich,
      Tania

  7. Ein ganz großartiger Text. Herzlichen Dank !

    Liebe Grüße

    Roswitha

    • Dankeschön, Roswitha!

      Herzlich,
      Tania

  8. Danke liebe Tanja für deine so tiefen Gedanken. Ich lese sie gerade, weil ich sie genau jetzt lesen soll . Ich fühle so unendlich viel und ständig höre ich eine neue Methode, wie ich sie wegmachen kann. Natürlich erst mal eben kurz anschauen, klar. Aber da wir ja alle miteinander verbunden sind, darf ich nichts denken und fühlen etc.
    Es macht mich krank, immer wieder meine Gefühle „zu behandeln“. Ich bin sehr empfindsam, ja, und das ist KEINE Schwäche. Das macht mich aus. Es ist so schön, dass du dies so ausführlich formulierst, danke, es hilft mir gerade sehr.
    Liebe Grüße

    • Liebe Iris,

      ja, genau: es macht krank, nicht so sein zu können, wie man ist, aber man ist nicht „krank“, weil man eben so ist…

      Alles Gute für Dich,
      Tania

  9. Liebe Tanja,
    auch ich finde mich, wie Silke, in deinen Ausführungen wieder und bin sehr dankbar und fühle mich bestätigt, dass ich „richtig“ bin.
    Ich sehe es auch als Bereicherung und als Geschenk. Mein früherer anthroposophischer Arzt hat mir das auch schon mal vor vielen Jahren gesagt.
    Ich war aber auch öfter in Zweifel, weil man ja deshalb auch angegriffen wird und verhöhnt: „ach bist du ein Sensibelchen“, usw.
    Den Schmerz und die unschönen Dinge empfindet man halt auch sehr viel stärker, das gehört dazu, ist nicht wegzudenken. -aber wie gsagt, man kann nicht „selektiv“ empfinden

    Vielen lieben Dank, Tanja und alles Gute, Hanni

    • Ja, ja, wie oft bin ich schon als „empfindlich“ bezeichnet worden… „empfindsam“ ist viel schöner und ja, ich steht dazu! 🙂

      Ganz herzlich,
      Tania

  10. Liebe Tania,

    ist das eine Freude Deinen Text zu lesen, Deinen Gedanken zu lauschen 🙂

    Es geht mir wohl wie all den Frauen, die Dir geantwortet haben: ich fühle mich gesehen und angenommen und auch gestärkt in meinem So-Sein-wie-ich-bin 🙂

    Das fühlt sich an wie Durch- und AufAtmenKönnen ~~~ wunderbar!

    Danke für Deine berührenden Worte,
    von Herzen
    Ursula

    • Und danke Dir für diese schönen Zeilen.

      Ganz herzlich,
      Tania

  11. „Empfindsame Menschen fühlen sehr tief und sind in der Lage mit anderen Menschen mitzufühlen (ja, manchmal fühlen sie sogar mehr als die Person selbst es für sich zulassen kann…). Sie lassen sich von ganz vielem berühren und bewegen und sind dadurch auch sehr verletzlich. Ich habe all das an mir immer als gute Eigenschaften gesehen, auch wenn sie naturgemäß zu viel Schmerz führen.“

    Ich habe für mich eine Lektion lernen müssen – oder vielleicht dürfen? – die ebenfalls mit Schmerzen verbunden war, mich aber ein Stückchen weiter zur Annahme meiner ureigenen Gefühlswelten geführt hat. Was ich für Empathie gehalten hatte, war nicht ein Mitfühlen, ein Mit-Empfindesn dessen, was die andere Person empfunden oder sich zu empfinden geweigert hat, sondern ein mich in die andere Person und deren Situation hineinversetzen und dann genau das zu fühlen, was ich an ihrer Stelle gefühlt hätte, wäre ich in genau ihrer Situation. Es war meins, nicht das dieser Person, was ich da empfunden hatte.

    Oft deckt sich das Wahrnehmen von Gefühlen, die ich dann hätte, mit Anteilen dessen, was diese Person möglicherweise auch empfindet – sich aber nicht zugesteht oder mangels ausgeprägter Antennen für die eigenen Gefühlswelten wahr nimmt. Oft, aber eben nicht immer. Ich bin sehr vorsichtig geworden mit der Annahme, dass ich möglicherweise „mehr“ oder „besser“ mitkriege, was andere da fühlen oder in ihnen im Untergrund so abläuft und weggedrückt wird.

    Vielleicht bekommt jeder das, was er gerade verkraften kann oder soll? Das Leben sorgt für uns. Und wenn ich im Kontakt mit meinen Mitmenschen Gefühle entwickle, die mit deren Lebenssituationen zu tun haben, werde ich zukünftig sehr behutsam nachspüren, ob das meins ist oder deren Ding.

    In meinem Leben gab es Zeitpunkte, wo ich mich bewußt für oder gegen die Empfindsamkeit entscheiden konnte – wieder und wieder und auch jeden Tag neu. Emfpindsamkeit kann uns überfordern, an Grenzen bringen, die sehr dicht an Abgründen verlaufen. Ich bejahe sie aus ganzem Herzen in ihrer Tiefe und Bandbreite. Auch der Schmerz hat seinen Platz, und oft genug bringen mich die unerwünschten unbequemen Gefühle mehr in die Entwicklung als die behaglichen Wohlfühlspektren. Gebären ist eben nicht das einzige natürliche Erlebnis im Leben eines Menschen, das zu Schmerz führt…

    Danke dir für deinen Impuls…

    • Und danke Dir für Deine bereichernden Gedanken!

      Lieber Gruß,
      Tania

  12. Hallo Tanja, hast Du schon mal von Hochsensibilität gehört ? Es ist mittlerweile eine neue annerkannte Persönlichkeitsstruktur

    schau doch mal unter Change.x de /Aticle /interview-sohst-zartbesaitet
    Hochsensibilität ist eine Stärke
    Lieben Gruß
    von Susanne

  13. Danke für Deinen Text! Hatte das Internet durchstöbert auf der Suche nach Persönlichkeitsstörungen auf Grund von Empfindsamkeit. Mir wird gerade bewusst, dass ich auf Grund zu starker und höher Zurückweisung und Missbrauch in Kindheit und früher Jugend meine Empfindsamkeit vollkommen aus dem Außen zurückgezogen habe.
    Auf die Gefahr hin zu jammern: Empfindsamkeit ist keine Schwäche, Empfindlichkeit aber schon. Als Mann kommst du um diese bittere Erkenntnis in keinem Fall herum. Da kommt nämlich niemand auf dich zu, um dich in den Arm zu nehmen, erst recht keine Frau.
    Leider lehrt uns niemand mit unserer Reaktion auf Empfindsamkeit (= Emotionen) umzugehen, weshalb wir eben lernen sie zu vermeiden.
    Während ich dabei bin meinen Peinigern zu verzeihen, wird mir bewusst, dass ich mit meiner Empfindsamkeit auch alles folgende verlor: Freude (an der eigenen Sexualität auch wenn der Instinkt weiter lebendig blieb), Kreativität, Zuversicht, Orientierung, Identität.
    Das will ich zurück!
    Danke fürs Zulesen 🙂

    • Hmmm, dazu vielleicht noch ein etwas anderer Gedanke:

      Du schreibst: „Als Mann kommst du um diese bittere Erkenntnis in keinem Fall herum. Da kommt nämlich niemand auf dich zu, um dich in den Arm zu nehmen, erst recht keine Frau.“ Meine Erfahrung ist die, dass meine Einstellung zu mir selbst sehr stark beeinflusst, welche Menschen in meinen Leben treten. Sprich: Lehne ich teile in mir ab, werde ich auf viele Menschen treffen, die ein Problem mit genau diesen Teilen in mir haben. Sage ich ja zu mir, nehme ich mich an, treffe ich auf Menschen, die mich annehmen. Ich sage nicht, dass es einfach ist, aber es beginnt bei mir, in diesem konkreten Fall eben schon vielleicht damit, ob ich mich selbst als „empfindlich“ oder „empfindsam“ sehe…

      Ganz herzlich,
      Tania

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